Der arme Schäferknabe

Am Rande von Bethlehem lebte einst ein Schäfer, der mit seiner Frau und vier
Kindern eine alte Hütte behauste.
Während Johannes, der zehnjährige Sohn tagsüber dem Vater bei der
Beaufsichtigung der großen Schafherde, die im Auftrag eines reichen Bauern zu
behüten war, unterstützte, blieben sein jüngerer Bruder und die beiden
Schwestern bei der Mutter, um ihr beim Pflücken von Beeren und Kräutern zu
helfen.
Die Mutter verstand es vortrefflich, aus den geernteten Früchten
wohlschmeckende Marmeladen zu erzeugen, die sie am Marktplatz von
Betlehem verkaufte.
So konnte sich die Familie recht und schlecht ernähren. Das Geld reichte jedoch
nur für die primitivsten Bedürfnisse des Lebens.
Eines Tages war Johannes mit Ingo, dem Hirtenhund, wieder einmal auf der
Weide. Da der Vater auch nachts die Schafe vor Wölfen und Dieben beschützen
musste, ruhte er tagsüber mehrere Stunden lang in der Hütte.
Johannes lag auf der Wiese, beobachtete die dahinziehenden Wolken und
kraulte Ingo, dessen Kopf auf ihm lag, das Fell hinter den Ohren. Der kleine,
zottige Hund war ein flinker, ausdauernder Läufer, der die Schafe stets im Griff
hatte.
Plötzlich erhob sich der Hund und lief, laut bellend, einem kleinen Schaf nach,
das sich von der Herde getrennt hatte. Johannes ergriff seinen Stock und eilte
dem Hund nach. Währenddessen hatte sich das Schäflein dem Rand einer
kleinen Schlucht genähert und war mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Als
Johannes atemringend bei Ingo angekommen war, sah er das Schäflein hilflos
zappelnd in einem großen, aus dem Felsen ragenden Busch liegen.
Nun versuchte Johannes das Tier, abwärts kletternd, zu erreichen. Ehe er es
jedoch fassen konnte, gab ein Stein unter seinen Füssen nach. Johannes stürzte
einige Meter ab, schlug mit dem Kopf am Boden der Schucht auf und blieb
regungslos liegen.
Der Hirtenhund, der das Geschehen beobachtet hatte, versuchte vorerst, zu
Johannes hinunterzurutschen, besann sich jedoch dann kurz und lief, laut
bellend, den weiten Weg zur Hütte zurück.
Der Vater erkannte am Verhalten des Hundes sofort, dass etwas geschehen war
und folgte Ingo, der vor ihm her lief, um ihm den Weg zu Johannes zu zeigen.

Durch das laute Hundegebell waren Hirten von benachbarten Weiden
aufmerksam geworden, hatten in der Zwischenzeit den ohnmächtigen Knaben
und das Schäfchen entdeckt und beide geborgen.
Nachdem Johannes in die Hütte gebracht worden war, wachte er auf, konnte
sich jedoch nicht bewegen und hatte starke Schmerzen.
Da die Eltern keinen Arzt bezahlen konnten, nahm sich ein Kräuterweib
Johannes an und behandelte ihn mit Salben und Tinkturen, die ihm zwar seine
Schmerzen linderten, ihm jedoch die Unbeweglichkeit nicht lindern konnten.
So lag der Knabe tagaus tagein in der Hütte. Manchmal trugen ihn seine
Geschwister an warmen Tagen vor die Hütte, damit er wenigstens die
Sonnenstrahlen genießen konnte.
**********
Eines nachts als der Vater bei seinen Schafen auf dem Felde war und sich mit
anderen Schäfern um ein kleines Lagerfeuer gesetzt hatte, erlosch das Feuer
durch einen plötzlichen Windstoß und es herrschte pechschwarze Finsternis.
Plötzlich tauchte aus dieser Finsternis ein kleines, jedoch überaus helles Licht
auf, das mit dem Näherkommen immer größer wurde. Kurz darauf schwebte
vor den zitternden aufgesprungenen Menschen eine riesige, silbern leuchtende
und mit großen Flügeln versehene Gestalt.
„Fürchtet Euch nicht!“, sprach die Gestalt.
„Ich bin der Engel des Herrn und verkünde Euch eine frohe Botschaft: Drüben,
im Bethlehem ist heute Nacht ein Kind geboren worden. Gehet hin und betet es
an. Folget dem Licht des Sternes, der Euch den Weg weisen wird!“
Als der Engel verschwunden war, sahen die Hirten plötzlich vor sich ein helles
Licht in Form eines kleinen Sternes leuchten. Und sie folgten dem Licht.
Während der große Engel von Feld zu Feld schwebte, um die Hirten der Gegend
aufzurufen, den Heiland aufzusuchen, flogen kleine Engel in die Hütten der
Schäfer, um Frauen und Kinder zu wecken.
Einer dieser kleinen Engel schwebte in die Hütte, in der Johannes wohnte. Er
weckte die Mutter und die Kinder, berichtete von der großen Freude und
forderte sie auf, nach Bethlehem aufzubrechen. Da bekleidete die anfangs
erschrockene Mutter ihre Kinder, versorgte und beruhigte Johannes noch
liebevoll und verließ die Hütte mit den Kindern. Johannes und der kleine Engel
blieben zurück.
„Warum gehst Du nicht mit ihnen?“, fragte der Engel erstaunt.
„Ich bin gelähmt und kann nicht gehen“, sagte Johannes mit Tränen in den
Augen.

Der kleine Engel, der sich zu den Füssen des kranken Knaben gesetzt hatte,
dachte kurz nach.
„Ich komme gleich wieder“, sagte er dann und verschwand.
Er fand den großen Engel, der in der Zwischenzeit seine Nachrichtenarbeit
beinahe beendet hatte bald und erzählte ihm von Johannes.
„Zeig mir den Weg zu diesem Knaben!“, sagte der große Engel dann und folgte
seinem kleinen Mitarbeiter, der ihn rasch zur Hütte führte.
Der große Engel musste sich sehr klein machen, um in die Behausung zu
kommen.
Als er den hilflosen Knaben sah, richtete er seinen Blick zum Himmel, murmelte
einige Worte, dankte und berührte Johannes mit beiden Händen.
„Steh auf, Johannes und komm mit uns zum Heiland!“, sagte er dann.
Johannes wurde plötzlich von einem Zittern erfasst, spürte, wie eine starke
Wärme seinen ganzen Körper durchströmte und stand auf.
Er fühlte keinen Schmerz mehr, nahm seinen Stock und folgte mit Ingo dem
kleinen Engel, der ihn nach Bethlehem führte.
Als sie sich einer alten Stallhöhle näherten, sah Johannes eine große Anzahl von
Schäfern, Frauen und Kindern stehen. Über dem Stall stand ein hell glänzender
Stern und aus dem Stall kam ein unbeschreiblich schönes Leuchten.
Nun verabschiedete sich der kleine Engel indem er Johannes einen Kuss auf die
Wange drückte.
„“Lebe wohl!“, sagte er.
„Ich werde Dich weiterhin beschützen. Jetzt aber geh` zum Heiland!“
Als die Menschen Johannes sahen, der ohne Beschwerden auf sie zukam,
wichen sie vor Erstaunen zurück und gaben den Weg zum Stall frei.
Johannes stand nach ein paar Schritten vor einer kleinen Krippe, in der ein
neugeborenes Kind lag. Eine Frau, die neben einem bärtigen Mann an der
Krippe saß, winkte Johannes an sich heran, nahm ihn an den Händen und sagte:
„Genau so, wie Du versucht hast, Dein Schäflein zu retten, wird mein Sohn uns
Menschen retten, lieber Johannes!“
Dann küsste sie den vor Glück weinenden Knaben auf die Stirne.
Von nun an zog das Gute bei der armen Schäferfamilie ein.
Als der reiche Bauer, in dessen Diensten der arme Schäfer stand, von dem
Wunder vernahm, schenkte er ihm ein großes Grundstück und einige Schafe
dazu.
Bald darauf hatte es Johannes Familie durch großen Fleiß zu einem
bescheidenen Wohlstand gebracht.

Auch später, als Johannes schon eine eigene Familie hatte, träumte er oft von
dem kleinen Engel und manchmal hatte er das Gefühl, der kleine Engel wäre in
der Nacht an seinem Bett gesessen.